Bidirektionales Laden kann für zukünftige Energiesysteme vielfältige Vorteile bieten. Dazu gehören eine gesteigerte Nutzung erneuerbarer Energien, die Stabilisierung der Netzfrequenz oder die Entlastung der großen Übertragungs- und Verteilernetze. All dies gelingt durch die Speicherung von elektrischer Energie. Das Lade- und Batteriemanagement von EVs (Electric Vehicles/Elektrofahrzeuge) wird zur wichtigen, neuen Kernkompetenz im Automobilbau.
Lesen Sie im Interview mit Andreas Hölzlwimmer, Experte für Ladekommunikation und bidirektionales Laden, weshalb die Technologie so wichtig für zukünftige Entwicklungen sowohl im Energiesegment, als auch im Fahrzeugbau ist und welches Potenzial in ihr steckt.
Andreas: Beim bidirektionalen Laden (englisch: BPT - bidirectional power transfer) werden die Ladesäule und das Fahrzeug dahingehend befähigt, dass Energie nicht nur wie beim Laden ins Fahrzeug fließt, sondern unter bestimmten Umständen auch ein Entladen des Fahrzeugs erfolgen kann. Dieses Entladen findet dann aber unter Rahmenbedingungen statt, die vorher exakt definiert werden und idealerweise auch so, dass der Endkunde einen maßgeblichen Nutzen aus dieser Funktion ziehen kann.
Kann ich also sagen, ich speichere die Energie, beispielsweise der Sonne, in meinem E-Fahrzeug und gebe sie wieder ab, wenn ich das Auto gerade nicht brauche?
Andreas: Genau das wäre ein möglicher Use-Case oder ein möglicher Anwendungsfall, wenn wir beim deutschen Begriff bleiben wollen (lacht). Das Fahrzeug würde dann die Rolle eines Stationärspeichers übernehmen, wie ihn viele ja schon im Keller oder in der Garage stehen haben. Es gibt aber natürlich auch ein hohes Potenzial für viele weitere Anwendungsfälle.
Und warum genau gibt es deiner Meinung nach aktuell einen solchen Hype rund um das Thema?
Andreas: Es gibt meiner Ansicht nach drei entscheidende Gründe dafür. Grund Nummer eins ist, dass die technische Norm, die das bidirektionale Laden ermöglicht, jetzt vor kurzem nach jahrelanger Arbeit offiziell veröffentlicht wurde. Die Norm, von der ich spreche, ist die ISO 15118-20, in der die bidirektionale Ladekommunikation beschrieben wird.
Der zweite Grund, aus meiner Sicht, ist die Tatsache, dass Fahrzeugspeicher inzwischen eine zunehmend höhere Speicherkapazität aufweisen. Vor 10 Jahren noch konnten beispielsweise der BMW i3 oder der Renault ZOE nur eine Energiemenge von ca. 20 kWh speichern. Aktuelle Fahrzeuge können jetzt schon 100 kWh oder sogar mehr Energie speichern, was aber auch bedeutet, dass diese Energie im Alltag nicht immer benötigt wird. Und aus dieser Überlegung heraus, dass ich da eine große Energiemenge oder große Speicherreserven habe, kann ich das Fahrzeug nun auch in mehrfacher Hinsicht verwenden. Das heißt ich nutze einen prozentualen Anteil des Gesamtspeichers, um einen zusätzlichen finanziellen Nutzen zu generieren und davon können Kundinnen im Grunde genommen nur profitieren.
Der dritte Grund ist, dass gerade mit dem Blick auf einen Markthochlauf in der Elektromobilität, auch das Thema der Vermeidung einer zu starken Belastung im Stromnetz immer wichtiger wird. Das bedeutet, dass ich als Netzbetreiber ein starkes Interesse an einer bestmöglichen Netzintegration der Fahrzeuge habe. Durch das bidirektionale Laden gibt es einen viel größeren Spielraum und ein viel größeres Spektrum an Möglichkeiten, die da zur Verfügung stehen. Das heißt, ich habe mehr Einsatzmöglichkeiten, um das Netz zu schützen. Da es sich bei unseren Stromnetzen um kritische Infrastruktur handelt, sind alle Möglichkeiten und stabilisierenden Technologien gerade sehr willkommen.
Welches Potenzial hat die Technologie im Hinblick auf Energiewende und -sicherheit?
Andreas: Auch dafür gibt es natürlich ein sehr hohes Potenzial. Gerade haben wir schon darüber gesprochen, dass wir durch den kundenindividuellen Einsatz von bidirektionalem Laden natürlich punktuell auch die Belastungen im Stromnetz reduzieren können und dies hat dann wiederum Vorteile für die Verbraucher*innen, durch eine höhere Zuverlässigkeit des Netzes oder geringere Kosten. Mit Blick auf die Energiewende liegt das größte Potenzial vor allem in der Vernetzung und im Pooling von bidirektionalen Fahrzeugen.
Denn erst wenn eine übergeordnete, intelligente Planung von Ladevorgängen stattfindet, natürlich immer unter Berücksichtigung des Kundenwunsches, können Belastungen auch nachhaltig minimiert werden. Insbesondere auch auf einer internationalen Netzebene, im Sinne von Übertragungsnetzen. Weiter können wir hierdurch die Verwendung von Energie aus erneuerbaren Quellen maximieren. Beispielsweise indem man Ladevorgänge in Zeiten eines geringen Angebots auf einen späteren Zeitpunkt verschiebt, zu dem größere Energiemengen aus erneuerbaren Quellen verfügbar sind.
Kann bidirektionales Laden als die Technologie verstanden werden, die das Bindeglied im Hinblick auf die Sektorenkopplung von Mobilität und Energie darstellt?
Andreas: Das kann man definitiv so sagen und verstehen, ja. Im Kleinen beginnt das bereits beim Endkunden, der die überschüssige Energie seiner Photovoltaikanlage im Fahrzeug speichert. Und im großen Kontext birgt das Pooling von Fahrzeugen das Potenzial, dass es künftig auf jeden Fall zu einer verstärkten Sektorenkopplung kommt, um eben überschüssige Energie, die in unseren Netzen vorhanden ist, in die Mobilität hinein zu optimieren.
Aus der Sicht eines Ingenieurs gesprochen: Was sind denn aktuell die technologischen Herausforderungen im Kontext bidirektionales Laden?
Andreas: Die größte Herausforderung liegt meines Erachtens im hohen Grad an Vernetzung im System. Beim bidirektionalen Laden in der letzten umfassenden Ausbaustufe hat man eine Verbindung des Fahrzeugs mit dem Energiemarkt. Dazwischen liegen die Wallbox, ein Heimenergiemanagement-System und auch der Stromzähler des Kunden, welcher vom Netzbetreiber gestellt wird. Der Kunde hat dann noch einen Energietarif und erst dann sind wir mit unserem Fahrzeug im Energiemarkt auch zu sehen. Über diese gesamte Wirkkette haben wir es also mit einer Vielzahl an Komponenten und einer ebenso hohen Anzahl an Schnittstellen zu tun. Die müssen allesamt für das bidirektionale Laden befähigt werden.
Gerade wenn man das Thema Interoperabilität mit einer Vielzahl an Herstellern in den Fokus rückt, oder sich diese als Ziel setzt, sehe ich für die Zukunft eine enorme Herausforderung und einen sehr hohen Bedarf an Standardisierungsmaßnahmen für die Schnittstellen. Das bedeutet konkret, gemeinsam daran zu arbeiten, einheitliche Standards zu schaffen, um die gesamte Wirkkette abbilden zu können.
Wenn ich als Hersteller auf der anderen Seite allerdings das Interesse an einer sehr schnellen Lösung habe, dann werden in Zusammenarbeit auch sehr gerne proprietäre (herstellerspezifische) Systeme entwickelt. Damit sind Systeme gemeint, die nicht unbedingt veröffentlichte Standards nutzen, sondern eigens dafür entwickelte Schnittstellen. Gerade bei der Nutzung proprietärer Schnittstellen spielt der Aspekt der Funktionsentwicklung, das heißt die Spezifikation eines Systems dahingehend, dass es sich so verhält, wie die auftraggebende Instanz es möchte, eine sehr große Rolle. Das wird eine Vielzahl von Entwicklungsdienstleistern in der Zukunft noch sehr stark beschäftigen und auslasten.
In welchem Grad der Reife befindet sich die Technologie des bidirektionalen Ladens denn gerade? Stehen wir hier noch ganz am Anfang oder können wir bereits von einer gewissermaßen "ausgereiften" Technologie sprechen?
Andreas: Wir stehen hier tatsächlich noch ganz am Anfang. Mit der Norm ISO 15118-20 haben wir die Grundlage dafür geschaffen, ein einheitliches Kommunikationsprotokoll zwischen Fahrzeug und Ladesäule zu generieren. Allerdings ist dies wie gesagt lediglich die Grundlage. Es ist nun an den Herstellern die Absprungbasis zu nutzen, um die Technologie weiter voranzutreiben, Systeme auf Basis dieser Ladenorm aufzubauen und das Thema Standardisierung, im Sinne der Beschreibung der gesamten Wirkkette in Standards, weiterzuverfolgen. Damit soll künftig zwischen einer möglichst großen Anzahl von Fahrzeugen und Ladesäulen Interoperabilität sichergestellt werden.
Kann eigentlich jedes Elektroauto bidirektional Laden?
Andreas: Diese Frage lässt sich leider nicht eindeutig mit "Ja" oder mit "Nein" beantworten. Grundsätzlich muss die entsprechende Funktion im Fahrzeug aktiv umgesetzt sein, das Stichwort lautet hier "Implementierung der entsprechenden Ladenorm", also der ISO 15118. Das muss in der Entwicklung berücksichtigt sein. Aus technischer Sicht ist ein gezieltes Entladen von elektrisch fahrenden Fahrzeugen aber auch jetzt schon möglich und zwar - ganz simpel - während des Fahrbetriebes. Da passiert ja im Grunde auch genau das, was beim bidirektionalen Laden geschieht. Es wird schlicht Energie aus dem Fahrzeugspeicher entnommen und zwar dann, wenn die Energie benötigt wird. Die technische Grundlage bringt meines Erachtens jedes elektrisch fahrende Fahrzeug mit, es scheitert allerdings meistens am Thema Ladekommunikation.
Meine abschließende Frage geht ein wenig weg vom sehr spezifischen Thema bidirektionales Laden - wir bleiben aber bei der Elektromobilität. Andreas, was ist denn dein ganz persönliches, bisher aufregendstes Erlebnis mit der E-Mobility?
Andreas: Mein aufregendstes Erlebnis ist tatsächlich ein Ausflug mit meinem privaten Elektroroller, der zu seinem Ende hin meinen Puls ganz schön in die Höhe schnellen ließ. Besagter Ausflug liegt bereits zwei Jahre zurück. Ich wollte hierbei eine etwas längere Strecke zurücklegen, es ging damals an der Isar entlang in Richtung Schäftlarn. Eine sehr schöne Strecke. Für alle, die topografisch nicht so sehr bewandert sind, auf dieser Strecke fährt man tendenziell bergauf. Und dann hatte ich beim Fahren auch noch Gegenwind. Schlussendlich war es dann so, dass am Umkehrpunkt meiner Strecke der Ladezustand meiner Batterie nur noch 40% betrug. Da dachte ich mir: "Oje - das könnte jetzt aber wirklich superknapp werden!" Und das war auch der Moment, in dem ich es zum ersten Mal ernsthaft mit der berühmten Reichweitenangst zu tun bekommen habe. Vor meinem inneren Auge habe ich mich das letzte Stück tatsächlich schon schieben gesehen.
Etwas bang um die Brust trat ich dann meinen Rückweg an. Glücklicherweise spielte mir dieses Mal die Topografie in die Karten - den Großteil der Strecke ging es nämlich bergab. Außerdem hatte ich Rückenwind und dank dieser Gegebenheiten zu meinen Gunsten habe ich es tatsächlich geschafft, ohne zu schieben mit 10% Restkapazität im Speicher an meinem Endziel anzukommen. Das war wirklich aufregend, ich habe dabei allerdings auch gelernt, dass man einfach entspannter sein muss, was dieses ganze Reichweitenthema betrifft.
Vielen Dank Andreas für das spannende Interview!
BPT | Bidirectional Power Transfer, normspezifische Abkürzung für bidirektionales Laden |
ISO 15118-20 | Spezifisches Kapitel aus der Norm, welche das bidirektionale Laden behandelt. Dieses ist seit 04/22 gültig. |
V2G | Vehicle-to-Grid (Das Elektroauto als eine Option zur Netzstabilisierung.) |
V2H | Vehicle-to-Home (Das Elektroauto wird als als privater Stromspeicher genutzt.) |
Smart Grid | "intelligentes Stromnetz", bedeutet: Ausgleich von Leistungsschwankungen im Netz durch optimale Kombination und intelligente Steuerung von Erzeugung, Speicherung und Verbrauch |
Smart Charging | Bei Smart Charging geht es darum, das Stromnetz zu schonen und das Laden kostengünstiger und umweltfreundlicher zu machen, indem die Ladeleistung über die Zeit gesteuert wird. Bidirektionales Laden ist eine Erweiterung zum Smart Charging. |
OCPP | Das Open Charge Point Protocol (OCPP) ist ein Kommunikationsprotokoll zwischen Ladestationen und einem zentralen Managementsystem (auch Backend genannt), das von Ladestationsbetreiber (Englisch „Charging station operators“) genutzt wird. Mehr erfahren im Blogartikel "OCPP: Von der Ladeabrechnung bis hin zum Smart Charging" |
HEMS | Ein Heimenergiemanagement-Systems (HEMS) managt und verteilt die über Solaranlagen gewonnene elektrische Energie an Verbraucher im Haushalt. Verbraucher könnte etwa die Ladestation für das Elektroauto sein. |
Sektorenkopplung | Gesamtheitliche Vernetzung zwischen den Branchen der Mobilität und Energie. Bidirektionales Laden kann als Brückentechnologie gesehen werden. |